Nichts gegen das Industriegebiet von Arese – aber wie kann an einem so tristen Ort etwas so Elegantes entstehen? Schon die erste Disco Volante, der Alfa C52 von 1952, muss ihrem Namen alle Ehre gemacht und wie eine fliegende Untertasse zwischen den grauen Nachkriegs-Zweckbauten hindurch geschwebt sein. Touring-Karosseriekünstler Federico Formenti hatte damals mit seinem UFO-Alfa eine so außergewöhnliche Gesamtform geschaffen, dass diese auch 60 Jahre später noch futuristisch wirkt. Zum Jubiläum hat die Carrozzeria Touring auf dem Genfer Salon 2012 das Eins-zu-Eins-Modell einer neuen Disco Volante präsentiert – und für das gekonnte Spiel von Formen, Linien, und Proportionen viel Beifall geerntet. In diesem Jahr ist nun in Genf die erste Straßenversion auf Basis des Alfa Romeo 8C Competizione zu sehen. Classic Driver hat den Entstehungsprozess seit September 2012 begeitet. Und noch vor der finalen Reise der neuen Disco Volante zum Salon-Debüt eine erste, exklusive Runde auf norditalienischen Landstraßen gedreht.
Schon die Werkshallen der Carrozzeria Touring Superleggera selbst sind ein Ort zum Träumen. Unter Planen schlafen namenlose Prototypen aus mehr als einem halben Jahrhundert Automobilgeschichte. Restauratoren in taubenblauen Overalls arbeiten selbstvergessen an großen Klassikern wie Alfa Romeo 6C und Aston Martin DB2 für die bevorstehende Concours-Saison. Dazwischen liegen High-Tech-Karosserieteile moderner italienischer Supersportwagen und warten auf die Lackierung. Inmitten des kreativen Chaos stehen – so verführerisch rot, als wären sie frisch in geschmolzenem Lippenstift und Jungfrauen-Blut gebadet worden – die beiden Dischi Volanti. Rechts das Modell aus Holz, links der betankte, fahrbereite Sportwagen.
Bevor mir zu den beiden Wesen vom Planeten Venus noch weitere Unanständigkeiten einfallen, rettet mich Designchef Louis de Fabribeckers: „Sieht von oben aus wie eine Cola-Flasche, oder?“ Ja, klar. Woher die ihre Kurven hatte, sei einmal dahingestellt. Grundsätzlich ist die Straßenversion den üppigen Formen des Vorbilds treu geblieben. Besonders der markante Hüftschwung, das ausladende Heck und die charakteristische aluminiumsilberne Linie vom Kühler über die vorderen Radhäuser bis zum Türgriff machen die Neo Disco zu einer einzigartigen Erscheinung. Nur kleine Details – wie etwa die Frontleuchten, die nun vom Ferrari 599 stammen – wurden hinsichtlich Machbarkeit und Zulassungsbestimmung geändert. Vom Alfa-Coupé übernimmt die Disco Volante die Technik und Architektur, also ein 450 PS starker V8 in der Front, ein Transaxle-Getriebe sowie Fahrwerk und Rahmen. Neu ist dagegen die Superleggera-Karosserie aus handgeklopftem Aluminium und Carbon, das Panorama-Glasdach, der größere Gepäckraum im ausladenden Heck und die Cockpit-Ausstattung, die mit ihren roten und blauen Ambient Lights auch als Kommandobrücke für eine modebewusste Raumpatrouille durchgehen würde.
Doch die „Fliegende Untertasse“ kann nicht nur gleiten, sondern auch angreifen. Das Bellen und Röhren des Alfa-V8 beim ersten Tritt auf’s Gas ist so herrlich heiser und kratzig, wie man es noch immer nur in Italien hinbekommt. Das vormals brettharte Fahrwerk haben die Entwickler dagegen etwas entschärft, was dem Charakter der Disco Volante besser entspricht. Einen angenehmen Effekt hat auch das Glasdach: Fühlte man sich im Alfa 8C immer etwas eingesperrt, ist die Touring-Variante von Licht durchflutet. Mit offenem Mund blicken die Berufspendler und Spaziergänger dem roten Blitz hinterher – und auch uns ist etwas mulmig bei dieser Ausfahrt. Selbst ein Steinschlag wäre so kurz vor der Abreise nach Genf kaum mehr auszubügeln, von einem ernsthaften Schaden ganz zu schweigen. Also suchen wir nach dem Beschleunigungs-Beweis einen ruhigen Ort, um unsere Begegnung der dritten Art noch einmal Revue passieren zu lassen.
Rund 4.000 Arbeitsstunden haben die Designer, Karosseriebauer, Ingenieure, Sattler und Lackierer in die neue Disco Volante investiert. Das Ergebnis spricht aber nicht nur für die Qualität eines Teams zwischen High-Tech und Handarbeit, sondern auch für das Verständnis der Carrozzeria Touring von einem modernen Bespoke Design: Nach alter Coachbuilder-Tradition werden für Kunden mit besonderem Geschmack individuelle Einzelstücke oder Kleinserien gefertigt, die – im Gegensatz zu den Designstudien vieler Hersteller – auch tatsächlich auf die Straße kommen. Wer möchte, kann die neue Disco Volante noch in Genf vom Stand weg kaufen. Oder eine eigene Version bestellen. Touring rechnet damit, vier bis sechs Exemplare zu fertigen. Beim ersten UFO-Familientreffen wären wir dann natürlich nur zu gerne dabei.
Weiterführende Links Die Geschichte der ersten Disco Volante von 1952 sowie der Entwicklung der Neuauflage vom Modell bis zum fertigen Sportwagen können Sie in unserem ausführlichen Dossier noch einmal nachlesen. Falls Sie selbst Interesse an einer neuen Disco Volante haben, finden Sie unter www.touringsuperleggera.eu weitere Informationen. Der Preis wird nur auf Anfrage bekannt gegeben. Zahlreiche klassische und moderne Alfa Romeo finden Sie auch im Classic Driver Marktplatz. |
Fotos: Jan Baedeker