Römischer Verkehrsdschungel
Es ist schon bizarr, mit einem 250.000 Euro teuren und in einem fluoreszierenden Orange lackierten Supersportwagen durch Rom zu cruisen. Vor allem, wenn er weder von Ferrari noch Lamborghini, sondern vom englischen Erzrivalen McLaren stammt. Am Vorabend, von der Hotelterrasse hoch über Rom und mit einem Glas Prosecco in der Hand, sah die ewige Stadt noch friedlich, ja fast idyllisch aus. Doch wer erst einmal in ihr hoffnungslos chaotisches Verkehrsgeschehen eintaucht, empfindet alles sehr schnell weniger malerisch. Da parken Autos so nah an den sündhaft teuren Kohlefaser-Rückspiegeln unseres McLaren, dass kein Blatt Zeitungspapier dazwischen passt. Da ignorieren Horden halbstarker Römer alle Verkehrsregeln und die Markierungen auf dem Asphalt hat wohl jemand aufgepinselt, der ähnlich wie wir die Orientierung verloren hatte. Wobei nicht ganz – denn gottlob ist die Rundumsicht aus der Kanzel des McLaren geradezu phänomenal...
Während wir ein so lange im Kreis fahren, bis sich das Satelliten-Navigationssystem nach kurzzeitigem Absturz wieder re-settet hat, entdecken wir eine Serie von Tunneln. Nichts wie rein und die Zeit nehmen für den obligatorischen Hörtest: Seitenfenster runter, ein (oder zwei Mal) runterschalten und .... whaaaaam. Doch nur für einen Moment, denn wer den McLaren im zweiten Gang voll ausdreht, überschreitet das Speed Limit schon um den Faktor drei. Okay, wie weit ist bis zum nächsten See und dessen Uferstraße?
Alles andere als normal
Zum Glück sind wir nun auf der Autostrada und verlassen die Stadt Richtung Norden. Aber damit kehrt längst keine Ruhe ein – im Gegenteil. Panda-Fahrer riskieren in Kamikaze-Manier Kopf und Kragen, um einen Blick auf dieses Auto von einem anderen Stern zu erhaschen. Oder sie fordern uns unmissverständlich auf, doch noch ein bisschen mehr Krach zu machen. Dass Italiener Autos lieben, ist ja das Understatement des Jahrhunderts. Zwar überbrückt der 720S „nur“ die Lücke zwischen dem 570 GT und dem rasiermesserscharfen, auf die Rennpiste geeichten 675 LT – doch er erfüllt diese Rolle wunderbar. Sind die Kennfelder für Fahrwerk und Motor im „Comfort“-Modus, fährt sich der McLaren so ruhig, harmonisch und komfortabel wie eine deutsche Mittelklasse-Limousine. Und zweifeln sie keine Sekunde daran, dass dies keine schlechte Eigenschaft sein muss.
Catch me if you can
Doch wie unkte Paul Chadderton, McLaren’s weltweiter Pressechef, am Vorabend noch beim Dinner: „Wenn der 570 S ein aufregendes Hündchen ist, dann ist der 720S ein Rhodesian Ridgeback.“ Während ich die ersten Kurven in den Hügeln zwischen Rom und dem Lago Bracciano angehe, verstehe ich, was er meint. Dieses Auto verlangt Deinen absoluten Respekt, denn sobald die erste längere Gerade kommt, um das Gas voll durchzudrücken, entsteht ein Gefühl, als würde man sich an einen am Untergrund festklebenden ballistischen Flugkörper klammern. 720 PS aus dem nun aus 4,0 statt 3,8 Liter Hubraum schöpfenden Bi-Turbo-V8 klingen bereits respektheischend. Doch sind es die im Vergleich zum 650S zusätzlichen 90 Nm an Drehmoment, die den Unterschied machen.
770 Nm stark ist das neue Kraftpotenzial, und ab 4000 Umdrehungen pro Minuten steht der volle Boost an. Die Werkangaben lauten 0-100 km/h in 2,9 Sekunden, 0-200 km/h in 7,8 Sekunden - und erst bei 341 km/h soll Schluss sein. Alles geht wie im Zeitraffer – die digitale Geschwindigkeitsanzeige klettert schneller nach oben, als man mit dem Hirn nachkommt. Und wie bei einem Formel 1-Lenkrad begleiten blitzende Leuchtdioden den Ritt auf der Kanonenkugel. Ein besonderes Schmankerl sind die Instrumente, die beim Umschalten in den Track-Mode nicht einfach nur den Bildschirmhintergrund einfärben, sondern sich komplett im Armaturenbrett versenken und nur noch einen kleinen Schlitz als Display übriglassen. Tja, und zum Glück für uns hoffnungslos langsame Menschen ertönt jedes Mal ein lautes akustisches Signal, wenn es Zeit ist, hochzuschalten. Sehr sinnvoll.
Wenn ist kurvig wird....
Wie zu erwarten, wird es bei der Ankunft an einer Kurve keineswegs langweiliger. Nur feste genug das Bremspedal drücken, und die über die ganze Breite gehende Luftbremse zeigt sich für einen kurzen Moment im Rückspiegel. Das zaubert ebenso ein Lächeln ins Gesicht wie die freudvollen, einem Gewehrschuss nicht unähnlichen Nebengeräusche beim Runterschalten. Und dank der erstaunlich cleveren Proactive Chassis Control II plus der ausfeilten Aerodynamik kann man dieses Auto mit sehr viel Sicherheitsmarge in Kurven hinein – und vielleicht noch wichtiger – auch wieder aus ihnen heraus steuern.
Schnelle Fahrten im mittleren Drehzahlbereich machten uns am meisten Spaß. Hält man einmal einen Gang doch zu lange und legt via Kohlefaser-Schaltwippe die nächste Stufe ein, scheint eine geballte Ladung Drehmoment bis in den unteren Rücken zu schießen. Sind die Straßen nicht topfeben oder sogar besonders holprig – wie so oft in diesem Teil Italiens – können jedoch auch alle Gigabytes dieser Welt ein Durchdrehen der Hinterräder nicht verhindern.
Ein wundervoller Widerspruch
Als wir in der betont hübschen und traditionsreichen Stadt Tolfa ankommen, um ein wenig zu verschnaufen, ist der McLaren sofort von einer neugierigen Menge umringt. In meinem rudimentären Italienisch kann ich ihre Fragen nur mit einem Wort beantworten: „Rapido, rapido...schnell, schnell!“ Statt Grappa ist jetzt ein starker Espresso geboten, während auch der 720S auf dem hübschen Dorfplatz eine wohlverdiente Rast einlegt. Womit wir nun aufs Design kommen, das schon bei der Weltpremiere in Genf sehr kontrovers diskutiert wurde.
Okay, die Formansprache ist sehr offensichtlich von der Aerodynamik bestimmt und übernimmt Elemente des P1. Wie das sich verjüngende und in die Motorabdeckung übergehende Rückfenster oder die V-förmigen Flügeltüren, welche Einlässe verdecken, die so groß sind, dass man seinen Arm locker hineinstecken könnte. Und die natürlich den Ein- und Ausstieg so viel einfacher gestalten. Und diese Scheinwerfer? Nun, sie funktionieren. McLaren hatte zum Vergleich beim Lunch-Stop den allerersten 12C dabei, um zu zeigen, wie weit sich das Design seit 2011 weiterentwickelt hat. Innen wie außen. Ich muss sagen: Der Fortschritt war schon sehr augenfällig....
Spielveränderer?
Natürlich muss man diesen 720S mögen. Und die Versuchung, das Auto am Flughafen, an dem ich es wieder abgeben musste, einfach vorbeizusteuern, war groß. Ich kann verstehen, dass mancher Sportwagenliebhaber die universellen Fähigkeiten des McLaren nicht passend für ein Auto hält, das doch auf ganz spezielle Einsatzzwecke ausgerichtet sein sollte. Doch das ist ja gerade der Punkt: Der 720 S ist ein spezielles Auto, doch nicht nur für spezielle Anlässe. Sondern eine Kombination aus allem, was McLaren in den letzten sieben Jahren gelernt hat. Die eigentliche Faszination dieses Wagens liegt für mich in der wahnsinnigen Geschwindigkeit, mit der er den Boden unter sich aufsaugt. Und die sehr physische, involvierende Weise, in der es tut. Der 720 S macht so süchtig wie eine Droge und wird seine Besitzer bei Laune halten, während sie sich immer mehr an ihre eigenen und die Fähigkeiten des McLaren herantasten.
Die Limits auf öffentlichen Straßen auszuloten, wäre fahrlässig. In meiner kurzen Zeit mit dem Auto habe ich daher auch nur an der Oberfläche des wahren Potenzials gekratzt. Der McLaren bietet nicht das Zeter und Mordio schreiende Jaulen eines Lamborghini V10. Doch man kann ihn jeden Tag nutzen, ohne ihm ein Wimpernzucken zu entlocken. Doch drückt man das Gaspedal beherzt durch, wird man noch im selben Augenblick daran erinnert, warum er so speziell ist.
Noch ein Gedanke zum Schluss: Sollten Sie daran denken, sich in die 1.700 Bestellungen lange Liste für einen 720S einschreiben zu lassen – Rom zumindest ist definitiv eine Großstadt, die man leichter zu Fuß durchqueren kann.
Fotos: Tom Shaxson für Classic Driver © 2017