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Warum wir auch in Zukunft von Sportwagen träumen werden

Warum wir auch in Zukunft von Sportwagen träumen werden

Sportliche Automobile stehen sinnbildlich für unsere Ambitionen, den technischen Fortschritt, Stil und Geschmack. Der folgende Text unseres Chefredakteurs Jan Baedeker und des Gestalten-Verlegers Robert Klanten ist in ausführlicher Form im neuen Buch „Beautiful Machines“ erschienen.

Es gibt kaum einen besseren Schlüssel zur Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts als das Automobil. Wenn künftige Archäologen einst die staubigen Artefakte unserer Epoche studieren, werden es wahrscheinlich die letzten erhaltenen Sport- und Rennwagen sein, die ihnen am meisten über die technischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Sehnsüchte des Homo automobilisan der Schwelle zum dritten Jahrtausend verraten werden. Es scheint im Rückblick geradezu visionär, dass Filippo Tommaso Marinetti schon 1909 in seinem „Manifest des Futurismus“ die ästhetische Relevanz eines Rennwagens über die formale Bedeutung der "Nike von Samothrake" stellte – tatsächlich sind die frühen Jahre der Automobilität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so etwas wie die Antike unseres Zeitalter der Geschwindigkeit, das sich nun langsam aber sicher seinem Ende entgegen neigt. 

Seit den frühen Tagen des Automobils beschäftigten sich seine Gestalter mit Fragen der Sinnlichkeit und Schönheit. Geniale Konstrukteure wie Ettore Bugatti schufen nicht nur mechanische, sondern auch ästhetische Meisterwerke. Seine gesellschaftliche Relevanz und globale Strahlkraft als Objekt der Begierde und Projektion von Träumen und Erwartungen erreichte das Automobil jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg. Aufbruch lag in der Luft und es ist kein Wunder, dass viele der faszinierendsten Sportwagen aller Zeiten im Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre entstanden: Die Schrecken des Krieges waren verflogen, und im Glanz der Sonne erstrahlte rechts und links der Straßen eine Landschaft unbegrenzter Möglichkeiten, die man am Steuer seines Gran Turismos rasant und auf eigene Faust erkunden konnte. Hatten die Generationen zuvor noch ihre Schrankkoffer auf kutschenartige Limousinen hieven lassen, reichte nun plötzlich einWeekender Bag, den man auf die spartanischen Notsitze oder in einem kleinen Gepäckfach verstaute. Viel mehr als ein paar frische Hemden, eine Sonnenbrille und seinen Pass brauchte man sowieso nicht auf dem Road Trip in die Freiheit. 

Wer damals mit einem Mercedes-Benz 300SL Flügeltürer durch die Serpentinen der Alpen brauste oder einem Lamborghini Miura auf einer Küstenstraße am Mittelmeer die Sporen gab, für den müssen sich die Möglichkeiten tatsächlich unbegrenzt angefühlt haben. Uns während Fotografien wie Edward Quinn oder Slim Aarons vermochten, den Ruhm und Glanz der jungen europäischen Hautevolée mit der Kamera einzufangen, gelang es Designern wie Battista Pininfarina oder Giorgetto Giugiaro, die Träume und Sehnsüchte ihrer Zeit in verblüffend schöne Karosserieformen zu dengeln. 

In den USA war man derweil schon einen Schritt weiter: Der neue Sehnsuchtsort der Amerikaner war der Weltraum, Raumstationen und Marskolonien bloß noch eine Frage der Zeit – und mit dem „Space Age Design“ fand der Raketen-Futurismus auch seinen Weg in die weltliche Formensprache. Dass die Straßenkreuzer nicht der Schwerkraft trotzten, sondern schwer und blubbernd über die Main Streets des kleinstädtischen Amerikas rollten und dabei gallonenweise Benzin verbrannten, spielte keine Rolle: Ihre Flügel bekamen sie trotzdem verliehen. 

Mit der ersten Ölkrise in den 1970er Jahren wurde der Welt zum ersten Mal klar, dass der Siegeszug des Automobils nicht für immer ungebremst an Fahrt aufnehmen würde. Noch immer waren die Sportwagen strahlkräftige Symbole des Fortschritts – doch statt die Sterne zu erobern, sollten die neuen Modelle nun vor allem die Konkurrenz mit immer besseren Beschleunigungs- und Höchstgeschwindigkeitswerten ausstechen und die Verkäufe der hauseigenen Volumenmodelle ankurbeln. Auch die Ästhetik der Sportwagen änderte sich in den 1980er und 1990er Jahren: Hatte es einst gegolten, Schönheit, Eleganz und Klasse zu verkörpern, waren nun Kraft und Aggressivität die neuen Primärtugenden eines effektvollen Sportwagendesigns. Das Mantra der Zeit lautete schneller, lauter, flacher, breiter. Und auch wenn sich das Potential der meisten Supersportwagen dieser Zeit sowieso nicht mehr auf öffentlichen Straßen entfalten ließ, reichte ihren Käufern doch die theoretische Möglichkeit und der gewaltige Flügel, der stellvertretend für die gewaltige PS-Potenz als Symbol in den Himmel ragte. 

Zu Beginn des neuen Jahrtausends sah sich die Automobilindustrie plötzlich mit dem elementarsten Paradigmenwechsel seit der Erfindung des Verbrennungsmotors konfrontiert: Angesichts des globalen Strukturwandels im Zuge der Digitalisierung und der weltweiten Herausforderungen des Klimawandels galt es plötzlich, die Zukunft der Mobilität von Grund auf neu zu denken und zu gestalten. Während die großen Marken ihre etablierten Geschäftsmodelle verteidigten, brachten ambitionierte Startup-Firmen wie Tesla oder Rimac die ersten Sportwagen mit Elektro-Antrieb auf die Straße – und demonstrierten, dass Automobile beileibe keinen dröhnenden Achtzylinder unter der Haube haben müssen, um zu faszinieren. Gleichzeitig änderte sich die Einstellung der jungen Generation zum Automobil: Statt Besitz und Status zählten plötzlich Bequemlichkeit und Flexibilität – wer in der Großstadt lebte, lieh sich bei Bedarf lieber das passende Auto aus der „Car-Sharing-Flotte“, als sich eine eigene Immobilie auf vier Rädern vor die Haustür zu stellen. In den Forschungszentren wurde derweil bereits ganz an der Abschaffung des Fahrers und der völligen Autonomisierung der Mobilität geforscht. Das Automobil, einst Sinnbild von Fortschritt und individueller Freiheit, erlebte seine größte Identitätskrise. Der Sportwagen wurde kurzerhand zum Staatsfeind erklärt. 

Es war kompliziert – und ist es noch immer. Denn obwohl sich die Vorzeichen der Mobilität rasant verändert haben, lebt der Traum vom außergewöhnlichen Automobil fort. Klassische Sammlerautos vervielfachten in den vergangenen Jahren ihren Wert und werden für Millionen gehandelt. Der Markt für kostspielige Individualisierungen und Sportwagen in limitierten Kleinserien blüht. Unabhängige Kreativmarken wie Singer, Emory oder Automobili Amos besetzen mit ihren Restomods jene Nischen für hochemotionale und bis ins kleinste Detail durchkomponierte „Traumautos“, die von den großen Automobilmarken auf ihrem Wachstumskurs vernachlässigt wurden. Die Welt des Automobils ändert sich rasant – und wird dabei faszinierender, vielstimmiger und kreativer, als jemals zuvor.

Mittlerweile hat sich auch in der alten Automobilindustrie die Erkenntnis durchgesetzt, dass es keinen besseren Aggregator für gesellschaftlichen Wandel und die Akzeptanz neuer Technologien gibt, als positive Begeisterung und optimistische Symbole einer freudvollen Zukunft. Die wenigen gebauten BMW i8 oder Porsche 918 Spyder dürften mehr für die Faszination der Elektromobilität getan haben, als alle Toyota Prius zusammen. Nachhaltigkeit selbst ist zum Statussymbol geworden – und warum sollte sie weniger elegante, schöne und begehrenswerte Automobilformen hervorbringen, als es die Designer zu Zeiten der goldenen  Coachbuilding-Ära oder des geflügelten Space-Age-Futurismus taten? Von ihren Pflichten als alltagstaugliche Transportmittel befreit, müssen in Zukunft gerade die Sportwagen und Gran Turismos noch mehr ungefiltertes Fahrerlebnis und noch mehr Emotionalität bieten, als jemals zuvor. In einer vernetzten und vollends automatisierten Welt haben sie weiterhin ihren Platz – als atemberaubende Vehikel der Selbstentfaltung, persönlichen Freiheit und Individualität. 

'Beautiful Machines' ist jetzt erhältlich

Dieser Text von Jan Baedeker und Robert Klanten ist als Vorwort im neuen, bei Gestalten erschienenen Buch „Beautiful Machines“ erschienen. Die weiteren Texte stammen von Blake Z. Rong, illustriert werden sie unter anderem mit Fotos von Rémi Dargegen and Mathieu Bonnevie. „Beautiful Machines“ ist im Classic Driver Shop erhältlich.

Fotos by Rémi Dargegen / Mathieu Bonnevie / Drew Phillips / Girardo & Co via Gestalten

„Beautiful Machines“ ist im Classic Driver Shop erhältlich