Anfang der Neunzigerjahre befand sich Aston Martin mitten in einer umfassenden Generalüberholung durch den neuen Eigner Ford. Dieses Schicksal teilte die britische Sportwagenmarke mit der Carrozzeria Ghia, die bereits 1970 von Ford übernommen worden war. Mit großem finanziellem Aufwand sollte über die Ausrichtung von Aston Martin beschlossen werden, um neue Märkte und Kundenschichten zu erreichen und Moray Callum, damals bei Ghia unter Vertrag, erhielt die ehrenvolle Aufgabe, die ruhende Aston-Schwestermarke Lagonda mit einer viertürigen Limousine zum Leben zu erwecken. Ironischerweise hatte Ford zeitgleich Morays älteren Bruder Ian Callum mit dem Entwurf des GT-Sportwagens DB7 betraut.
Während der DB7 auf der Basis des Jaguar XJS aufbaute, hatte man für die Entwicklung des Vignale-Konzepts ein ganz anderes Modell auf dem Ford-Portfolio als Plattform-Spender auserkoren – das Lincoln Town Car von 1990. Um der bauchigen Art-Deco-Karosserie genügend Raum zu geben, musste das Chassis allerdings deutlich verlängert werden. Von Ford stammte auch die Aufhängung, das Viergang-Getriebe und der 4,6 Liter große DOHC-V8-Motor, der mit rund 190 PS Leistung eher gemütlich daherkam. Das Triebwerk war jedoch nur als Lückenfüller gedacht – für eine Serienversion der Limousine hatte man jenes 5,9-Liter-V12-Aggregat gewählt, das später auch im Aston Martin Vanquish zum Einsatz kam und in abgewandelter Form selbst heute noch verwendet wird.
Auf dem Genfer Automobilsalon 1993 debütierte das Aston Martin Lagonda Vignale Concept neben dem DB7. Dabei wurde erst deutlich, welche gewaltigen Dimensionen Moray Callum in seiner organischen Formensprache verpackt hatte – der Vignale war sogar länger und breiter als der damals aktuelle Rolls-Royce Silver Spirit. Da es in der späteren Designgeschichte von Lagonda kaum Kontinuität gegeben hatte, konnte Callum mit seinem Entwurf quasi bei Null anfangen: „Da es kaum eine DNA gab, an die wir uns halten konnten, machten wir praktisch was wir wollten“, erinnert sich der ehemalige Ghia-Designer. „Uns ging es vor allem darum, Prunk und Glanz der Marke zum Leben zu erwecken.“ Tatsächlich erinnerten die wogenden Formen an die großen Limousinen von Duesenberg und Delahaye, während die verhältnismäßig kurzen Überhänge dem Wagen nicht nur einen größeren Innenraum für bis zu fünf Personen, sondern auch einen moderneren Auftritt bescherten.
Das Art-Deco-Thema setzte sich im Interieur fort. Mit Anilin gefärbtes Pergamentleder, Buchenholz-Furniere, Aluminium-Oberflächen und dicke Wollteppiche verliehen dem Lagonda die Atmosphäre eines Gentlemen’s Club. Zunächst wurden zwei Prototypen gebaut – ein drittes Exemplar mit Codename DP2138 wurde später vom Aston Martin Works Service als einziges Serienmodell produziert. Der Wagen basierte auf einer kleineren Plattform und war deshalb etwas bescheidener bemessen, zudem unterschieden sich Scheinwerfer und Grill, im Fond waren statt der Sitzbank zwei Einzelsessel installiert und unter der Haube arbeitete der deutlich angemessenere V12. 1995 wurde der dritte Lagonda Vignale für 1,3 Millionen Pfund Sterling an den Sultan von Brunei verkauft. Die beiden Prototypen war eine weniger glorreiche Zukunft beschieden – das sorrentoblaue Exemplar wurde 2002 für rund 400.000 US-Dollar versteigert, das graue Modell wanderte nach absolvierter PR-Tour auf den Schrottplatz.
Obwohl die Studie in Genf durchaus positiv empfangen worden war, konnte Morays Limousine Ians sportlichem DB7 nicht das Wasser reichen. Ford hielt die Wiederbelebung der Marke Lagonda zudem für zu kostspielig, da sie außerhalb von Großbritannien sowieso fast unbekannt war. Der DB7 dagegen stand in direkter Verbindung zu den großen GT-Modellen der Marke, die auch jenseits des Atlantiks einem großen Publikum geläufig waren. Der Zwillings-Zwist wurde mit dieser Entscheidung übrigens nicht begraben: Während Moray Callum heute das Design-Department von Ford America leitet, hat sein Bruder Ian Callum in den vergangenen fünf Jahren jedes neue Jaguar-Modell entworfen.
Fotos: Aston Martin Lagonda