Vor 100 Jahren war die Anreise nach Indien jedoch noch selbst ein Erlebnis.
Indien ist für die meisten westlichen Reisenden noch heute das große, exotische Abenteuer. Der Subkontinent verspricht, seine Besucher in einen bunten Malstrom aus Pracht und Armut, Genuss und Krankheit zu ziehen. Indien lehrt Zivilisationsmüden und Sinnsuchern, was es heisst, zu leben und zu sterben – keine acht Flugstunden von Frankfurt entfernt. Vor 100 Jahren war die Anreise nach Indien jedoch noch selbst ein Erlebnis: Von Europa aus reiste man mit dem Dampfer durch den Suezkanal, eine Fahrt dauerte in etwa drei Wochen. Wer sich eine Fernreise leisten konnte, hatte ohnehin Zeit im Überfluss. „Abgesehen von der Seereise genügen für Ceylon und Vorderindien 2 ½ - 3 Monate, um die Fülle der wunderbaren Eindrücke, die Natur und Bewohner bieten, in sich aufzunehmen“, heißt es im Vorwort des Indien-Baedeker von 1914 großzügig. Von Sehenswürdigkeit zu Sehenswüprdigkeit bewegt man sich mit der Eisenbahn – und sogar die Individualreise ist bereits im kommen: „Während es noch vor 10 Jahren fast für ausgeschlossen galt, Indien ohne einen eingeborenen Diener zu bereisen“, so heißt es in den praktischen Vorbemerkungen, „haben sich die Verkehrsverhältnisse jetzt so entwickelt, dass man bei genügender Beherrschung der englischen Sprache und sonst schon im Ausland erworbener Reiseerfahrung sich auch allein behelfen kann.“
Frack, Dinner-Jacket - und eine lebenswichtige wollene Leibbinde
Was die Ausstattung angeht, ist allerdings von T-Shirt und Multifunktionshosen noch keine Spur. Vielmehr ist große Garderobe angesagt: „Wer Gesellschaften mitmachen will, kann den Frack nicht entbehren. Der Gehrock kommt nur für Empfänge beim Vizekönig, den Gouverneuren usw. in Frage.“ Besuche kann man im Anzug machen – nur nicht im weißen, der ist dem Militär vorbehalten und wird in der Eisenbahn sowieso zu schnell schmutzig. Doch damit nicht genug: Tagsüber werden bequeme Hemden mit Doppelkragen und geknüpftem Langschlips getragen, abends zum Dinner-Jacket nur feine weiße Hemden und einfacher Stehkragen mit schwarzem Binder. Selbst vor Wäsche-Empfehlungen schreckt der Baedeker nicht zurück: „Der Vorrat an Unterkleidern muss für mindestens 3 Wochen reichen, ohne dass man zum Waschen auszugehen braucht“ – den Händen der eingeborenen Wäscher sei nicht zu trauen. Neben ausreichend Hand- und Leinentüchern sei „unter keinen Umständen“ eine wollene Leibbinde zu vergessen, „die man im Bett nötig hat.“
Der Koffer füllt sich
Und es geht weiter: „Den unumgänglichen Tropenhit (Sola Topi) kaufe man entweder in einem guten deutschen Geschäft für Tropenausrüstung (...) oder auf der Durchreise in Port Said, wobei man die Unbequemlichkeit der Mitnahme bis dorthin vermeidet.“ Allerdings wird geraten, die bessere Qualität zu bevorzugen, da billige Modelle schnell auszubleichen pflegen. In die Schrankkoffer der Reisenden, deren Gewicht mittlerweile einem Kleinwagen entsprechen dürfte, gehören nun nur noch kräftige braune Schnürstiefel, Segeltuchschuhe für Ceylon, Lackhalbschuhe für den Gesellschaftsanzug, Filz- und Strohhüte, Reisemützen, Morgenschuhe, ein Feldstecher, ein Taschenthermomether, ein Trinkbecher aus Aluminium, ein Messer mit Korkenzieher, eine elektrische Taschenlampe, eine Brille mit farbigen Gläsern zum Schutz gegen die grelle Sonne, ein Taschenkompass und natürlich die Reiseapotheke. Allerdings, wir wundern uns, ohne dazugehörigen Apotheker.
Whisky gegen fades Wasser
Das wichtigste Medikament neben Chinin und Kalium ist ohnehin der Whisky, mit dem sich auch der „fade Geschmack der indischen Sodawasser“ verbessern lässt. „Whisky & Soda, mäßig genossen, kann wohl als das bekömmlichste und billigste Getränk bezeichnet werden und ist überall zu haben.“ Müssen wir uns den europäischen Indienreisenden von 1914 also als stets angeheiterten und passend gekleideten Packesel vorstellen, der monatelang mit seinem ganzen Hausstand samt Klappbett kreuz und quer durch Indien wanderte? Auch wenn die Empfehlungen Karl Baedekers sicherlich alle Eventualitäten berücksichtigten, hoffen wir doch inständig, dass nicht jeder Leser von einst sie von A bis Z befolgt haben wird.