Zu bestimmten Phasen unserer Kindheit haben wir alle Tagträumen nachgehangen und die Autos unserer Phantasiewelt gezeichnet. Doch während viele davon träumten, eines Tages Astronaut, Sportler oder Politiker zu werden, stand für den in Manchester geborenen und heute in London tätigen Designer Toby Mellor schon immer fest, später einmal im Automobildesign Fuß zu fassen.
Wir haben den charmanten 31-Jährigen einen Tag lang im trendigen Osten Londons begleitet, wo er wohnt und arbeitet und viele seiner Inspirationen bezieht. Unser fahrbarer Untersatz für den Tag, ein seltener Volkswagen Jetta Mk1, dem Mellor seit zwölf Jahren die Treue hält, wirkte dabei nicht deplatziert in dieser so bunten und ganz anderen Ecke der Weltmetropole.
„Meine Passion waren von jeher Autos, Kunst und Zeichnen. Als ich drei Jahre alt war, begann ich mit dem Zeichnen von Autos, Monster-Trucks und allem, was sonst noch Räder hatte”, erinnert sich Mellor, nachdem wir es uns in seinem hypermodernen Studio in Hackney bequem gemacht haben. „Ich wollte Autodesigner werden, nichts Anderes. Also überlegte ich sorgfältig die ersten Schritte und begann ein Studium für Autodesign an der Universität Coventry – damals das Epizentrum des globalen Automobildesigns.”
Doch schnell dämmerte es Mellor, dass man nicht einfach lernen kann, Autos zu designen und sie dann auch noch 1:1 so zu bauen, wie er naiver weise annahm. Also suchte er Erfahrungen in der realen Welt. Und tatsächlich wurde ein von ihm und einem Freund in dreijähriger Arbeit bei einem kleinen englischen Hersteller von Supersportwagen entworfenes Fahrzeug als würdig betrachtet, in Produktion zu gehen. Wurde, ob zu Recht oder Unrecht, Realität. „Irgendjemand war tatsächlich gewillt, das, was ich, der Student, gezeichnet hatte, zu bauen. Das gab mir einen echten Vorgeschmack auf die Zukunft und ermutigte mich letzten Endes zur Gründung von Auto Designworks.”
Das Konzept hinter seinem eigenen Thinktank Auto Designworks – zu dessen Kunden unter anderem die ultacoole Custom-Motorradmarke Autofabrica zählt – ist einfach: Automobile Konzepte mit Hilfe von hoch integrierten Design- und Produktionsprozessen Realität werden zu lassen. „Wenn jemand gewillt ist, Zeit, Geld und Mühen in ein Einzelstück oder ein in kleiner Serie aufgelegtes Supersportmodell oder Motorrad zu investieren, gibt es einfach keine Entschuldigung für schlechtes Design”, stellt Mellor klar. „Gefordert wird die Energie und der Fokus einer Person, die den Designprozess wirklich versteht und weiß, was getan werden muss. Wir könnten Hunderte von großartigen kleinen Automobilmarken im UK haben, doch leider gibt es zu viele Menschen da draußen, die nicht ausreichend in gutes Design investieren.”
Ehe er den Sprung ins kalte Wasser wagte und vor fünf Jahren in die Hauptstadt zog, verdiente sich Mellor bei JCB, dem bekannten Hersteller von Bau-, Industrie- und Landmaschinen, seine Sporen. Drei Jahre arbeitete er dort in der Abteilung für Industriedesign – eine Position, die er sich durch einen innovativen und umweltfreundlichen Kran erworben hatte. Noch auf der Universität entstanden, hatte er das Interesse der omnipräsenten Baufirma geweckt.
Die in Staffordshire gesammelten Erfahrungen waren unbezahlbar. „Das Schöne an der Arbeit bei JCB war, dass ich viel über Projektkontrolle lernte – wie man das, was man designt hatte, auch produzierbar machte”, erklärt Mellor. „Es ist eminent wichtig zu verstehen, wie Dinge wirklich entstehen. Wenn ich heute etwas zeichne, weiß ich schon genau, wie man es produzieren muss und wie es am Ende aussehen wird. Es ist für einen Designer frustrierend zu sehen, dass es große Konzepte nicht weiter als bis auf die Leinwand schaffen. Bei Auto Designworks versuche ich nun, dass so etwas gar nicht erst passiert.”
In seiner kreativen Rolle bei JCB schätzte sich Mellor auch glücklich, Zeit mit einem seiner persönlichen Helden der Geschäftswelt, CEO Lord Anthony Bamford, zu verbringen. Und, was noch wichtiger war, von ihm zu lernen. Er traf auch Bamfords Sohn George, ein kreativer Kopf, mit dem sich Mellor bald in London beim Bamford Watch Department zusammentat. Zu den von beiden realisierten Projekten zählt die Bamford Mayfair, eine 500 Pfund teure und widerstandsfähige, aber elegante Alltagsuhr, die alles unbeschadet mitmacht. Sie wurde als „Courtesy“-Uhr für Bamford Kunden so beliebt, dass sie heute fast jede Modekette, darunter Selfridges und Mr Porter, im Sortiment führt.
Eher zufällig führte die neue kreative Partnerschaft dazu, dass Bamford der erste Kunde von Mellors Ableger Chronograph Automotive wurde. Der sich auf die Produktion von aufregenden Auto-Unikaten konzentrierte. Beim fraglichen Modell – die Interpretation eines der begehrenswertesten italienischen Cabriolets der 1960er-Jahre in Kombination mit einer modernen Bodengruppe – vergingen 18 Monate zwischen erster Skizze und fahrfertigem Auto. Mit einer Unmenge an Forschung und mit größter Sorgfalt wurde die visuelle und technische Integrität sichergestellt. Von CAD Testreihen bis zu Compliance- und Homologations-Fragen blieb kein Stein auf dem anderen.
„Chronograph Automotives USP besteht nicht nur nur in der Möglichkeit, Traumautos zu bauen, sondern dabei auch absolute Exklusivität und Anonymität zu bewahren”, erklärt Mellor. „Wenn ein Kunde das Design und das fertige Auto vertraulich halten und es direkt per Tieflader in seine Garage transportieren lassen will, können wir das auch arrangieren. Es dreht sich alles um Vertrauen und Know-how.”
Chronograph Automotive bezog zumindest teilweise auch Inspirationen aus dem so genannten „Bentley Buch”. Das war ein mit kühnen Skizzen für Konzeptmodelle illustriertes Buch, das Bentley in den 1980er- und 90er-Jahren an seine zahlungskräftigsten Kunden verschickte. In der Hoffnung, dass sie daraufhin genügend Bargeld zusammenbrächten, um diese Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen. Der Sultan von Brunei gehörte bekanntermaßen zu jenen, die tatsächlich darauf ansprangen. Er sagte ‚Ich will einen davon und drei davon’ und hielt Bentley in dieser schwierigen Phase so über Wasser.
„Das war in der vor-digitalen Zeit. Wenn ich heute die grobkörnigen Fotos sehe, auf denen Bentley SUVs in Flugzeuge verladen werden, komme ich nicht umhin zu denken: Wie cool war das denn und wie gerne würde ich jetzt hingehen, und sie aufspüren”, sprudelt es aus Mellor heraus. Er ist gerade dabei, selbst eine Art „Bentley Book” zu entwerfen und es an seine Kunden zu verschicken. Und er hat einige der internationalen Top-Designer überreden können, ihre Ideen beizusteuern. „Ich hatte nie vor, das alleine zu machen – ich liebe Design und besonders gerne betrachte ich die Ideen anderer. Nichts frustriert mich mehr, als wenn eine großartige Skizze eine Skizze bleibt. Ich möchte keine Konzeptstudie verkaufen. Jedoch makellose Autos liefern, die auf der Phantasie eines Individuums basieren.”
Betrachtet man die höchst unterschiedlichen Illustrationen an den Wänden seines Studios, so wird deutlich, dass Mellor genauso in die Vergangenheit wie in die Gegenwart und Zukunft schaut. Unter diesem Eindruck sind wir neugierig zu erfahren, woher er seine persönlichen Inspirationen bezieht und wie er seinen eigenen Stil und seine Philosophie beschreibt. „Ich bin ein recht minimalistischer Designer”, antwortet er. „‚Form follows Function’ ist ein geläufiges Mantra in dieser Industrie, doch mich interessiert vor allem, wie man diesen Anspruch tatsächlich erfüllt. Ich glaube an die perfekte Harmonie zwischen beiden Polen und dass die Menschen intelligent genug sind, die Balance zu erkennen. Auch, wenn sie nicht zwangsläufig den dahinter verborgenen Designansatz verstehen.”
Mellor erwähnt die Werke des deutschen Industriedesigners der Moderne, Dieter Rams, und Konzeptstudien von Bertone, die ihn während seiner Jugendjahre inspirierten. Ebenso Giorgetto Giugiaro, der zufälligerweise nicht nur seinen Volkswagen, sondern auch die flippige, in seiner Uhrenrolle steckende Seiko Spirit entwarf. Letztere wird ergänzt um eine fantastische Auswahl von Chronographen mit 70er-Jahre-Charme, darunter eine seltene Heuer Regatta, eine Omega Speedmaster MkII und eine originale Porsche Design mit PVD-Beschichtung.
Was uns elegant zum außerhalb unseres Lunchspots, dem Restaurant Brunswick East, geparkten Jetta führt. Übrigens ein absolut empfehlenswertes Lokal, wenn Sie mal im Dalston Viertel, einem Teil des Londoner Boroughs Hackney, unterwegs sind. Der „Spring Clean” Brunch war besonders köstlich. Das Auto gehörte ursprünglich den Großeltern eines Freundes von Mellor in Manchester und es dauerte angeblich Jahre, bis sie sich endlich dazu überreden ließen, ihm den VW zu verkaufen. „Sollte ich es aus Designersicht beschreiben, dann als das Auto, das jedes Kind so zeichnen würde – drei Schachteln auf Rädern”, sagt Toby nicht ohne einen Anflug von Zuneigung. „Und Kinder lieben in der Regel dieses Auto!”
Der Jetta ist bekanntlich ein Golf I mit Kofferraum und eckigen Scheinwerfern. Und da er im Vergleich zu den USA in England keine große Fangemeinde hatte, sind heute im UK nur noch eine Handvoll von ihnen unterwegs. Tobys Exemplar soll sogar das letzte mit Diesel-Motor im ganzen Land sein. „Es ist gut zu wissen, dass es noch massig Ersatzteile gibt“, sagt er. „Und in Fällen, in denen ich keine auftreiben konnte, habe ich sie im 3D-Drucker selbst nachproduziert!”
Während der zwölf Jahre mit dem Auto hat der Jetta Mellor auf vielen Fernreisen zuverlässig begleitet, darunter auf einer epischen Tour nach Tschetschenien. Zurück blieben zahlreiche gute Erinnerungen. Er hat den Rucksack-Golf sogar in seiner Garage selbst restauriert, er ist leicht tiefergelegt und steht auf Mk II-Felgen, Reminiszenz an seine „Tuning”-Tage auf der Uni. „Ich würde ihn nie mehr verkaufen, da ich so viel Zeit und Energie hineingesteckt habe und er so viele Geschichten erzählt. Was kann man sonst für dieses Geld kaufen, das Giugiaro designt hat, das 60 Meilen pro Gallone schafft, immer zuverlässig anspringt und die Freude an einem klassischen Modell spendet?“
Nach einem schnellen Fotostopp mit dem Jetta vor der wundervoll brutalistischen Hackney Wick Bahnstation lassen wir den Tag mit einem feinen Craft-Bier in der nahegelegenen Crate-Brauerei ausklingen. Mellors wissensbasierte Begeisterung, seine penible Aufmerksamkeit für Details, sein lässiger Stil und die Warmherzigkeit eines Briten aus den Midlands wirken ansteckend. Würden wir einen einzigartigen Sportwagen bauen wollen, der neben den ikonischsten Klassikern die Zeit überdauern würde – wir könnten uns keine bessere Person für die Umsetzung vorstellen. „Wir bieten in der Realität verwurzelte Träume”, definiert es Mellor. „Alles dreht sich um das Ineinandergreifen von Design, Zusammenbau und Fahreindruck.“ Alles Beste für Dich, Toby. Wir können kaum abwarten, was als Nächstes kommt.”
Fotos: Tom Shaxson für Classic Driver © 2019