In der Autoindustrie gibt es eine Menge nochmals geschärfter Versionen von Sportwagen, die sowieso schon sehr schnell sind – wie beispielsweise die Black Series von Mercedes, die Longtails von McLaren und natürlich die vielen Porsche 911, welche das RS-Treatment bekamen. Aber aus dieser exklusiven Riege birgt keiner dieselbe Bedeutung wie Bugattis eigene Benchmark für alles überragende Leistung – der Super Sport. Diese beiden Worte zieren als Prädikat die bereits schnellsten Autos der Welt, um quasi die Abenddämmerung des Modellzyklus einzuläuten. In diesem Fall kommt ihnen aber noch eine zusätzliche Bedeutung zu, denn Bugatti verabschiedet sich vom Wettkampf um die Topspeed, nachdem die Konkurrenz erleben musste, wie der Chiron Super Sport 300+ mit gestoppten 482,80 Stundenkilometer eine bestehende Rekordmauer durchbrach. Kurz vor der heutigen Weltpremiete hatte unser Fotokünstler Rémi Dargegen das große Glück, den neuen Bugatti Chiron Super Sport zusammen mit den beiden anderen modernen Bugatti, die diesen Titel tragen, in Südfrankreich fotografieren zu können.
Der Begriff Super Sport reicht zurück in das Jahr 1931, als Bugatti den Type 57 Super Sport beim Pariser Automobilsalon enthüllte, doch es sollten 62 Jahre vergehen, ehe ein anderes Auto diese Kennzeichnung erhielt. In 1993 debütierte der EB110 Super Sport mit seinem aufgeladenen V12, der 610 PS entwickelte und mit seinem Geschwindigkeitsrekord von 351 Stundenkilometer die Richtung für alle nachfolgenden modernen Bugatti vorgab. Zwei Jahrzehnte später holte Bugatti diese Marke wieder für den Veyron 16.4 Super Sport hervor, der Bugatti einen weiteren Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde mit einer Topspeed von 432,2 Stundenkilometer aus 1.200 PS bescherte und damit zum schnellsten straßenzugelassenen Seriensportwagen der Welt avancierte. Der Veyron Super Sport besitzt auch die besondere Auszeichnung, die einzige Version dieses Modells zu sein, die NACA-Hutzen besitzt, um die Silhouette noch windschlüpfiger zu machen. Daran erkennt man, wie engagiert Bugatti das Ziel der aerodynamischen Effizienz und damit der Höchstgeschwindigkeit verfolgte. Fraglos ist der Chiron Super Sports damit Teil eines sehr exklusiven Clubs geworden. Doch was hier auch ganz wesentlich ist: Dieses Auto unterscheidet sich in seiner ganzen Technik nicht vom Chiron Super Sport 300+, der die 300-Stundenmeilen-Barriere durchbrochen hat.
Vor diesem Hintergrund muten die Leistungsdaten von Bugattis jüngstem Super Sport-Vertreter selbstredend aberwitzig an. Bugatti hat den sowieso schon kolossal bemessenen 8,0-Liter-W16 nochmal überarbeitet, um ihm zusätzliche 100 PS zu entlocken – damit erhöht sich die Gesamtzahl auf 1.600 PS. Der Motor dreht jetzt höher und mit zusätzlichen 300 U/min auf dem Drehlzahlband dreht die Maschine auf maximal 7.100 U/min. Das Spitzendrehmoment hat sich ebenfalls auf der Skala um 1.000 U/min nach oben bewegt und liefert 1.600 Newtonmeter zwischen 2.000 und 7.000 Umdrehungen. Die technischen Magier in Molsheim hatten offensichtlich den Eindruck, dass ihre Turbos dieser Wucht nicht gewachsen waren und vergrößerten auf die Lader. Unter Volllast bleibt der Ladedruck bei maximal 2,8 bar und taucht nur bei Gangwechseln für 0,3 Sekunden ab. Das Ergebnis dieser Optimierungen ist ein Auto, das auf 400 Stundenkilometer beschleunigt – sieben Prozent schneller als der blitzschnelle Chiron. Diese Steigerung erreicht erst bei der maximalen Höchstgeschwindigkeit von 440 Stundenkilometer ihre Grenze.
Aber kehren wir aus diesen Höhen wieder ein Stück näher an die Erde zurück, um die Karosserie einer der schnellsten Maschinen zu betrachten, die sich je gegen die Gravitationskräfte gestemmt hat. Man würde nicht übertreiben, wenn man feststellt, dass es in puncto Design kaum noch Verbindungen zwischen den Super Sport-Varianten des EB110 und dem Veyron gibt, abgesehen von Bugattis charakteristischem Hufeisengrill. Andererseits sieht man hier in strahlendem puren Weiß ganz klar die optischen Merkmale, die den Bogen zwischen Chiron Super Sport und seinen Vorgängern spannen. Die neun runden Lufteinlässe jeweils über den Kotflügeln spiegeln nicht nur jene an den Seiten des EB110 SS, sondern helfen auch, den Luftdruck von den vorderen Radkästen abzuleiten, was die Anpresskraft über der Frontachse erhöht. Die Frontpartie des Chiron Super Sport ist so aggressiv ausgeprägt wie wir es selten zuvor bei Bugatti beobachtet haben, beispielsweise mit Air curtains, welche die Luftströmung von der Front zu den Radläufen verbessern und damit auch zum beispiellosen „Überholprestige“ dieses Bugatti beitragen. Wer ihn im Rückspiegel heranfliegen sieht, macht wohl auch – fasziniert – am Steuer eines schnelleren Autos Platz.
Bewegt man sich entlang der Silhouette des Chiron Super Sports hin zum verlängerten Heck – das übrigens jeden McLaren LT in den Schatten stellt -, erkennt man, dass die aerodynamische Zielsetzung des Veyron Super Sport auch hier zum Tragen kommt. Ganze 25 Zentimeter hat diese Partie zugelegt, die eindeutig optisch markiert wird durch zwei schön geformte Karbonfaserelemente. Laut Bugatti soll diese Verlängerung die Laminarströmung so lange wie möglich entlang der Karosserie führen, um die aerodynamische Effizienz des Fahrzeugs zu verbessern. Auch beim vergrößerten Luftverteiler des Super Sport haben die Designer Bugattis auf das Prinzip bigger is better gesetzt und damit die Schleppfläche am Heck um 44 Prozent reduziert. Die beiden vertikal angeordneten Doppelauspuffe des 300+ wurden ebenfalls übernommen – eine optisches Indiz für Überholte, dass es sich hier um den neuen Super Sport und nicht um weniger kraftvolle Chiron handelt. Wenn man von den letztgenannten überhaupt so sprechen möchte.
Eigentlich liegt der einzige visuelle Unterschied zwischen dem Super Sport und dem 300+ darin, dass glückliche Eigner eines Chiron Super Sport die Lizenz besitzen, ihr neues Hypercar nach Herzenslust zu konfigurieren. Zu dieser Hyper-Wunschliste zählt, dass man ein zweifarbig horizontal geteiltes Farbschema bestellen kann, dass das längere Heck in Szene setzt genauso wie die Option, diese umwerfenden Magnesiumräder des Chiron Pur Sport zu bestellen. In unseren Augen verwirklichen die tief lauernden aber gestreckten Proportionen des Chiron Super Sport das volle technische und ästhetische Potenzial des ursprünglichen Chiron.
Im Interieur sind die Eingriffe weit weniger radikal ausgefallen. Eine kluge Entscheidung, denn der Chiron besaß bereits ein Interieur, das so exquisit ist, dass es sich allenfalls nur mit dem Taj Mahal messen könnte. Ein Mix aus natürlichem Leder, poliertem Aluminium und Karbonfaser dürfte auch für Chiron-Besitzer bereits vertraut sein, wobei auch hier von Bugatti ein Individualisierungsangebot offeriert wird, das garantiert, dass kein Chiron Super Sport dem anderen gleichen dürfte. Mögen andere auf die Topspeed ausgerichtete Hypercars auf Grund ihrer strikten gewichtsminimierenden Diät etwas karg wirken, haben Bugattis Entwickler hier das Kunststück vollbracht, eine Smoking Lounge in einer Interkontinentalrakete einzurichten.
Und damit sind wir bei Sinn und Zweck des Chiron Super Sport: absolute Geschwindigkeit in absolutem Komfort zu erreichen. Dieses Auto ist Bugattis ultimative Verkörperung dessen, was ein Grand Tourer sein kann. Wo der auf die Rennstreck fokussierte Chiron Pur Sport für Kurvenfahrten und Querbeschleunigung entwickelt worden war, liegt das ureigene Terrain des Chiron Super Sport in der Komfortzone unvergleichlich erlebter Langstreckenfahrten. Laut Bugatti war das Ziel des neuen Super Sport „absolute Fahrstabilität im Verbund mit Komfort bei der Höchstgeschwindigkeit“. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, mussten neue Michelin Pilot Cup Sport 2-Reifen entwickelt werden – die einzige Bereifung, die kontinuierlich mit Geschwindigkeiten bis zu 500 Stundenkilometern belastet werden kann, ohne unter dem immensen Druck zu explodieren. Michelin führte die Reifenversuche mit einem Schlepper aus, der ursprünglich für das Nasa-Space Shuttle gebaut worden war, um das außerirdische Leistungsprofil des Sportwagens, den Sie hier bewundern, gewährleisten zu können.
Welche Investition verlangen diese Superlative von hoffnungsvollen Kunden? Mit 3,2 Millionen Euro ist eine Zahl im Raum, die so atemberaubend wie die Leistungsdaten sein dürfte. Andererseits, ist dieses Auto Bugattis Abschiedstour in der langen Markengeschichte, die sich der leidenschaftlichen Mission der absoluten Höchstgeschwindigkeit verschrieben hat. Wenn man bedenkt, welche technologische Leistung dieser Chiron Super Sport darstellt, dann ist der Preis vielleicht doch eher nachrangig. Mate Rimac übernimmt demnächst die Führung bei Bugatti und dies könnte auch das letzte Auto mit Verbrennermotor sein, das zur Liga der Super Sport gezählt wird. Aber wir hoffen natürlich auf ein da capo ehe der Vorhang fällt.
Photos: Rémi Dargegen © 2021