Da sitzt man also am Montagmorgen nach dem Concorso d’Eleganza Villa d’Este, klappt benommen blinzelnd das Laptop auf und muss sich ernsthaft fragen, ob man das alles tatsächlich erlebt – oder vielleicht doch nur geträumt hat. Wie dem auch sei, die Grandezza-Blase ist geplatzt, das letzte Aperol-Glas geleert, und somit der Zeitpunkt gekommen, das automobile Binge-Watching-Wochenende in halbwegs sinnhafte Worte zu fassen. Klar ist: Der Kampf um die Thronherrschaft ist entschieden, der neue Sammlerzar ist der alte geblieben – nämlich der Amerikaner David Sydorick mit seinem schier unschlagbaren Jahrhundertauto, dem Alfa Romeo 8C 2900B von 1937. Das schwarze Wunderwerk aus der Carrozzeria Touring gewann nach Siegen in Pebble Beach und Paris nun auch die dritte große Trophäe in Folge und wurde von Jury und Publikum einstimmig zum elegantesten Automobil auf Erden gewählt.
Soweit, so wenig überraschend. Etwas schade war es hingegen schon, dass angesichts der übermächtigen Touring Berlinetta eine ganze Reihe außergewöhnlicher und preiswürdiger Autoklassiker fast kampflos ihre Waffen strecken mussten. Und man muss dem Slecting Committee ein Kompliment machen – selten war der Wettbewerg so erstklassig, vielseitig und spannend besetzt wie in diesem Jahr, in dem der Concorso d’Eleganza Villa d’Este seinen 90. Geburtstag feierte. In der Klasse der Automobile aus den frühen Tagen des Schönheitswettbewerbs am Comer See wurde ein seltener Boattail Tourer der heute nur noch begrenzt glamourösen marke Vauxhall zum Klassensieger gewählt.
Doch so eindrucksvoll die gewaltigen Straßenschiffe von Delahaye, Lagonda und Rolls-Royce auch sein mögen – unser Herz verloren wir einmal mehr als jene Miniatur-Sportwagen, die in der Nachkriegszeit von italienischen Coachbuilding-Studios wie Frua, Ghia und Bertone als Kunstform perfektioniert wurden. Der 1952 gebaute Maserati A6G/2000 des belgischen Sammlers Roland D’Ieteren führte einmal mehr vor Augen, dass Präsenz und Dynamik nichts mit den Abmessungen zu tun haben müssen. Einer unserer Favoriten im diesjährigen Wettbewerb war der hellgraue Abarth 205 Sport 1100 Ghia aus dem Jahr 1953, der lange als verschollen gegolten und mit seinem eigenwilligen Jet-Age-Look im Jahr 2015 beinahe den Titel „Best of Show“ in Pebble Beach gewonnen hatte.
Den Klassensieg durfte derweil Shiro Kosaka mit nach Hause nehmen – der Ausnahme-Abarthsammler hatte seinen Fiat Abarth Monomille GT im Jahr 1964 als Neuwagen in Tokio gekauft und seitdem in prächtigem Originalzustand behalten. Und noch ein anderes Bonzai-Geschoss wurde prämiert: Die wunderbare, von Touring geschneiderte Ferrari 166 Mille Miglia Barchetta aus dem Jahr 1949 erinnerte uns daran, wie puristisch und zugleich elegant Enzo Ferraris frühen Sportwagen doch waren. Dass der kleine Flitzer in einer Klasse mit dem gewaltigen Ferrari 500 TRC und dem mächtigen CD Panhard LM64 startete, war jedoch etwas verwunderlich.
Bei den Sportwagen der Rock’n’Roll-Ära war es derweil nicht der Ferrari 250 GT Competizione mit seinen von Pinin Farina gezeichneten Heckflügeln oder der Alfa Romeo 1900 Super Sprint „La Flèche“ aus der Sammlung von Corrado Lopresto, die von der Jury zum Sieger erkoren wurden – sondern ein in dieser extravaganten Gesellschaft geradezu unscheinbarer Mercedes-Benz 300 SL. Der Flügeltürer beeindruckte die Preisrichter jedoch nicht nur mit seinem handgefertigten Motor, sondern vor allem mit seiner Geschichte: Als 19. gebautes Exemplar diente der Wagen im Herbst 1954 als Demonstrationsfahrzeug – und wurde dabei von legendären Fahrern wie Alfred Neubauer, Karl Kling, Juan Manuel Fangio und Stirling Moss über die Rennstrecke von Montlhéry und Brands Hatch gescheucht.
In der Klasse der Sechziger-Sportwagen gab sich derweil ein alter Bekannter die Ehre – und fast hätten wir ihn nicht erkannt! Denn jener Ferrari 250 GT California Spyder SWB, der einst Alain Delon gehört hatte, 2014 nach jahrelangem Dornröschenschlaf in einem französischen Schloss entdeckt und trotz seines schwer ramponierten Zustands für 16 Millionen Euro versteigert wurde, erstrahlt wieder in neuem Glanz. Und so beeindruckend die Restauration durch Russell & Company auch sein mag, vermissen wir doch ein wenig jene unwiederbringliche Patina, die den Wagen so einzigartig machte.
Der Hype um automobile Provenienz hat dafür gesorgt, dass den „Star Cars“ beim Concorso d’Eleganza Villa d’Este eine eigene Klasse gewidmet wurde. Im Zentrum des Wettbewerbs thronte so Elvis‘ einstiger BMW 507 auf einer überdimensionalen Schallplatte. Der italienische Rock’n’Roll-Sänger „Little Tony“ mag heute außerhalb des Landes weitgehend vergessen sein – doch der Mann hatte Stil: Am Comer See waren gleich zwei Sportwagen aus seinem einstigen Fuhrpark zu sehen – ein Lamborghini Miura und ein Bizzarrini GT Strada 5300. Auch Elton John zeigte sich in Automobilfragen geschmackssicherer als bei der Auswahl seiner Brillen, seinen auberginenfarbene Aston Martin V8 Vantage hätten wir am liebsten für eine Spritztour entführt.
Nachdem Designchef Adrian van Hooydonk und die BMW Group mit dem wieder aufgebauten BMW Garmisch dem Bertone-Designer Marcello Gandini schon am Vorabend des Concorso die Ehre erwiesen hatten, staunte das Publikum am Samstag und Sonntag über ein weiteres Concept Cars des großen italienischen Gestalters.
1967 hatte der geflügelte Lamborghini Marzal die Automobilwelt überrascht, 2011 war der Prototyp von RM Auctions an der Villa Erba versteigert worden. Der Schweizer Sammler Albert Spieß hat den silbernen Espada-Vorreiter seitdem aufwändig restauriert und freute sich umso mehr über den Klassensieg an diesem geschichtsträchtigen Ort.
Und noch mehr Zukunftsvisionen vergangener Tage gabe es zu bewundern. Der 1970 von Paolo Martin für Pininfarina entworfene Ferrari 512 S Modulo ist sicherlich eine der außergewöhnlichsten und bekanntesten Designstudien des Keil-Zeitalters. Besitzer James Glickenhaus hat das kaum einen Meter hohe UFO in den vergangenen Jahren von einer statischen Skulptur in ein fahrbares Showcar verwandelt – und ließ sich auch von den sintflutartigen Regenfällen, die am Concours-Samstag über die Villa d’Este hereinbrachen, nicht seinen Auftritt verwässern.
Wetterfest zeigte sich auch Philop Sarofim, der im vergangenen Jahr den eindrücklichen Lancia Stratos Zero aus Los Angeles mitgebracht hatte und in diesem Jahr mit einem amerikanischen Stück Automobilkultur überraschte: Der GM-Designer Herb Adams hatte sich 1965 mit dem Vivant 77 seinen Traum von einem eleganten Hot Rod erfüllt, dessen Linien nicht zufällig an die „Batmobiles“ von Bertone erinnern. Mit Schirmen gegen den Regen bewaffnet, erklärten Philip Sarofim und sein Beifahrer Richard Gauntlett die elegante Promenade vor der Villa d’Este kurzerhand zum Viertelmeilen-Strip – und nur dem Moderator Simon Kidston ist es zu verdanken, dass die staunende Hautevolée nicht noch mit einer Kiesdusche bedacht wurde.
Dass ein Auto nicht einmal vier Räder braucht, um beim Concorso das Publikum zu begeistern, bewies schließlich das Team vom Lane Motor Museum im amerikanischen Nashville, Tennessee. Ihr einsitziger, zweirädriger Gyro-X wurde 1967 vom Ford-Designer Alex Tremulis als Lösung aller Verkehrsprobleme ersonnen – doch der Kreiselstabilisator, der den Wagen in der Balance halten sollte, erwies sich als wenig zuverlässig und so blieb es beim Prototyp. Dennoch sind es ungewöhnliche Konzepte und Ideen wie der Gyro-X, die den Concorso d’Eleganza Villa d’Este zu einem so spannenden wie inspirierenden Querschnitt durch die Automobilgeschichte machen.
Fotos: Rémi Dargegen für Classic Driver © 2019