Der Retter
Ronald Stern hat nicht nur Poster an die Wände seiner Wohnung gehängt und Automagazine mit Anzeigen gesammelt – in der Hoffnung, eines Tages selbst ein springendes Pferd zu besitzen. Obwohl wir damit nicht sagen wollen, dass er das nicht auch getan hätte. Doch ist er noch viel mehr. Nämlich ein Beschützer und Bewahrer. Gäbe es ihn nicht, wäre die Zeugnisse der Geschichte des großen Enzo Ferrari und der Marke, die er nach dem Krieg mit so viel Passion erschuf, über die ganze Welt verstreut worden. Den meisten wäre sie unbekannt geblieben und manches vielleicht für immer verloren gegangen.
Der heilige Gral
Es ist keine einfache Aufgabe, Geschichte festzuhalten. Wie viele von uns haben noch Fotos auf unseren Smartphones, die ausgedruckt werden müssten? Schleppen monatelang Eintrittskarten von Events am Boden unserer Handtaschen herum? Oder stapeln Magazine, die weder im Altpapier noch im Archivordner gelandet sind? Und alles lagert meistens in einem Raum unserer Wohnung, in Erwartung, irgendwann wiederentdeckt zu werden. Und stellen Sie sich nun vor, all das wäre über zahlreiche Häuser, Büros, Scheunen und Speicher in ganz Italien (und in vielen Fällen noch jenseits davon) verstreut? Fast jeder hätte irgendwann davor kapituliert, all diese Reliquien und Schätze aufzustöbern – eben nur nicht Roland Stern. Fast 40 Jahre seines Lebens hat er der Suche nach so vielen Fotos, Originalzeichnungen, Broschüren, Jahrbüchern, Büchern und Rechnungen wie möglich gewidmet. Und auf diese Weise eines der größten, wenn nicht sogar DAS größte Ferrari-Archiv der Welt aufgebaut.
Jäger und Sammler
Wenn er an die Anfänge zurückdenkt, fällt Ronald als Erstes sein: „Ich jagte, jagte und jagte. Eine Menge Trips nach Italien. Während der Jahre sickerte alles Mögliche an Material aus dem Werk nach draußen und als mir klar wurde, dass es in alle Winde verstreut werden sollte oder teils sogar schon wurde, dachte ich: Das ist ein Unding und nahm mir vor, hinzugehen und alles zusammen zu sammeln. Es hat mich eine Menge Zeit und viele Mühen gekostet, doch bin ich froh, es getan zu haben.“ Mit Bildern, die Enzo Ferrari und seinen Bruder bei der Kommunion zeigen über Speisekarten des allerersten Dinners der Scuderia Ferrari, Originalzeichnungen des Werks in Modena und persönlichen Briefen und Rechnungen Enzo Ferraris erzählt das Archiv nicht nur die Geschichte der Marke, sondern auch die des Mannes hinter allem. Wir erhielten einen kleinen Einblick in den überreichen Fundus während einer Privatführung durch die Ausstellung Ferrari: Under the Skin im Londoner Design Museum. Und was wir da sahen, war schlicht umwerfend.
Verdammt cool
Von dem Moment an, an dem uns Ronald die ersten Stücke seiner Sammlung präsentiert, wird offensichtlich: Das ist für ihn kein Hobby, sondern eine lebenslange Passion. Er spricht über die Geschichte Enzo Ferraris mit Bewunderung und echtem Interesse – so, als würde er sich eines Freundes erinnern. Und selbst bei Stücken, die er seit Jahrzehnten besitzt, scheint es, als sähe er sie jetzt zum ersten Mal. Als Beispiel nehme man ein Foto von Tazio Nuvolari in einem frühen Scuderia Ferrari Alfa Romeo. „Für mich ist das eines der großartigsten Motorsportfotos aller Zeiten. Es zeigt Nuvolari, wie er 1932 den GP von Monaco gewinnt. Dazu eine Widmung: ‚Für Enzo Ferrari, in allerbester Freundschaft, Tazio Nuvolari.’ Das ist einfach verdammt cool, oder?“
Für die Show und die Straße
Es sind aber nicht nur Erinnerungstücke wie diese, die Ronald gesammelt hat. Denn auch das ein oder andere spezielle Auto fand während der ganzen Zeit den Weg in seine Garage; zwei davon sind in der Ausstellung zu sehen: der silberne und blaue, ursprünglich für Gianni Agnelli gebaute Testarossa Spider und der Maranello Concessionaires 275 GTB/4. Über den Testarossa sagte Ronald: „Ich dachte, was für ein tolles Auto, dazu mit einer fantastischen Geschichte. Ich kaufte ihn nicht, um ihn auf der Straße zu fahren, sondern primär als Showmodell. Lieber sollte ich jenen da benutzen“, fügt er hinzu und deutet auf den dahinterstehenden babyblauen 275. „DK Engineering konnte seine Restaurierung gerade noch rechtzeitig vor Eröffnung der Ausstellung abschließen. Es war ein Vorführwagen von Maranello Concessionaires und ich war glücklich, als ich das Auto fand. Ronnie Hoare wollte seine Autos immer in Cambridge Blue. Daher haben wir das Modell wieder in dieser Originalfarbe neu lackiert. Wenn Sie sich alte Rennbilder anschauen, sehen Sie zwar als Hauptfarbe rot, aber immer ergänzt um ein blaue Partien am Bug und am Heck sowie einen übers ganze Auto mittig gezogenen Längsstreifen im gleichen Farbton.“
Ein echter Gentleman
Auch wenn über 90 Prozent aller Memorabilia der Ferrari: Under the Skin Ausstellung aus Ronalds Archiv stammen – und damit seinen Namen außerhalb der Ferrari-Zirkel so bekannt machen wie nie zuvor – wird deutlich, dass er sein Archiv nicht angelegt hat, um damit Anerkennung oder Ruhm zu erlangen. Ebenso wenig, um es als gewinnbringendes Unternehmen einzusetzen. Er glaubt fest daran, dass die Magie von Ferrari für alle erlebbar sein sollte – nicht nur für jene, die sich einen 166 MM oder LaFerrari Aperta leisten können. „Ich habe alles versucht, um die Geschichte von Ferrari nach bestem Wissen und Gewissen zu bewahren. Es wäre unverzeihlich gewesen, mitansehen zu müssen, dass die Geschichte einer so großen Firma über die ganze Welt verstreut worden wäre. Daher bin ich dem Design Museum dankbar dafür, dass es nun Leuten, die sonst nie die Chance dazu gehabt hätten, all diese Erinnerungsstücke zeigen kann.“
Fotos: Robert Cooper für Classic Driver © 2017