Der Virage war in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren das Aushängeschild der Marke und das letzte Modell, das im Werk Newport Pagnell komplett in Handarbeit entstand.
Am Ende der ersten Produktionsserie waren 358 Coupés fertig – 167 als Rechtslenker (davon 71 mit Handschalter und 96 mit Automatik) und 191 Linkslenker (92 mit Handschalter und 99 mit Automatik). Dazu kamen 234 offene Volante-Modelle, davon waren 121 Rechtslenker (nur sieben mit Handschalter und 114 mit Automatik) und 113 Linkslenker (18 mit Handschalter und 95 mit Automatik).
In der vorausgegangenen und von 1970 bis 1989 gebauten V8 Generation dominierte noch das Automatikgetriebe. Interessanterweise stieg nun beim Virage der Bestellanteil für Handschalter. Entsprechend groß ist daher heute auch das Angebot für alle Drei-Pedal-Anhänger. Neben den bereits erwähnten Serienwagen wären noch all jene Wagen zu nennen, die entweder von vornherein als 6,3 Liter gebaut oder später auf diese Spezifikation umgerüstet wurden. Auch wenn die Aufzeichnungen lückenhaft sind, geht man davon aus, dass rund 15 Exemplare im Werk entstanden und noch mal die gleiche Anzahl später aufgerüstet wurden. So oder so sind das sehr seltene Exemplare.
Mit dem beziehungsreich betitelten Virage (französisch für Kurve) kratzte die britische Traditionsmarke damals tatsächlich die Kurve. Es gibt nur wenige Aston Martins, die man als Meilenstein-Modelle titulieren kann - den Ulster, DB2, DB4, Vanquish und eben auch der Virage gehören dazu. Er half der Marke zu überleben und bewies, dass Aston auch mit begrenzten Mitteln bemerkenswerte Sportwagen bauen konnte.
Ende 1986 kam man in Newport Pagnell jedoch an zwei unbequemen Wahrheiten nicht mehr vorbei: Der V8 in all seinen Spezifikationen war am Ende seiner Entwicklung angekommen. Und die weltweit immer strengeren Abgasvorschriften ließen sich nur noch mit einem neuen Modell erfüllen. Die Weltwirtschaft war gesund, und unter der Leitung des übersprudelnden CEO Victor Gauntlett fiel die Entscheidung, erstmals nach dem DB4 von 1958 ein neues Modell aufzulegen. Der Prototyp des Virage, DP2034, wurde dann sogar der erste Aston, der mit Hilfe von CAD (Computer Aided Design) entstand.
Die wunderbar fließenden Linien des Virage waren das Werk von Ken Greenley und John Heffernan. Dank ihrer Einfachheit und Klarheit beeindrucken sie bis heute. Zur Schönheit kam Effizienz – auch dank bündig eingelegter Front- und Heckscheiben betrug der Cw-Wert nur 0,34. Die hinteren Bremsen rückten nach außen, die de Dion-Hinterachse verbesserte im Vergleich zum alten V8 den Abrollkomfort. Der Durchmesser der Bremsscheiben war so groß wie noch nie zuvor in Astons Geschichte.
Ein weiterer großer Entwicklungsschritt betraf den Motor. Er verfügte erstmals über Katalysatoren und wurde zusammen mit Callaway in Connecticut entwickelt. Der Block ging noch auf den existierenden und von Tadek Marek gezeichneten V8 zurück, doch die Vierventil-Köpfe waren neu und in punkto Verbrennung und Einbaugröße optimiert. Für die Gemischaufbereitung zeichnete eine Weber-Marelli-Einspritzung verantwortlich und schon in seiner zahmsten Stufe leistete der Motor 320 PS. Neben einem Fünfgang-Handschalter von ZF stand die Torqueflite Dreistufen-Automatik von Chrysler zur Auswahl. Nach einer erstaunlich kurzen Entwicklungszeit von zwei Jahren wurde das Auto auf der Birmingham Motor Show von 1988 erstmals öffentlich gezeigt – und erntete durchweg positive Reaktionen.
Im Oktober 1990 schob Aston den Volante nach – eines der schönsten offenen Modelle, die Aston Martin jemals auf die Räder gestellt hatte. Dazu kam, dass das sehr steife Chassis des Volante den Umbau recht komplikationslos machte. 1992 folgte dann die 6,3-Liter-Variante mit größeren Rädern und Bremsen sowie auf 456 PS gesteigerter Leistung. Nun endlich verfügte der Virage verdientermaßen über authentische Supercar-Performance.
Ich hatte vor kurzem die Gelegenheit, diesen sehr frühen und gut gepflegten Virage zu fahren. Obwohl ein Standard-Modell, ist es doch speziell, gehörte es doch ursprünglich zur nur neun Modelle umfassenden Hunter Green Collection mit grüner Außenfarbe über einem braunen Lederinterieur. Es war schon etwas länger her, seit ich das letzte Mal hinter dem Steuer eines Virage gesessen hatte und ich muss zugeben, dass es ein überraschendes Erlebnis war. Das Auto verströmt eine große Präsenz und Ausstrahlung und erzeugte bei anderen Verkehrsteilnehmern weitaus mehr Aufmerksamkeit als jeder moderne Aston.
Wie bei Grand Tourern aus jener Epoche herrscht im Cockpit eine wunderbar luftige und relaxte Atmosphäre. Die Dachsäulen sind relativ schmal und die Sicht nach außen ist frappierend gut. Kein Gefühl, durch einen Briefkastenschlitz zu gucken, wie bei so vielen modernen Autos. Das Connolly Leder spendet dem Auto ein opulentes Flair, zugleich „old world“ und frisch. Es fiel mir schwer, an ein Auto zurückzudenken, in dem ich noch bequemer gesessen habe.
Von nah sieht der Virage paradoxerweise kleiner als aus der Distanz und so wirken die glatten Linien noch eindrucksvoller. Die Art, wie die Kabinenfenster an den unteren Teil der Karosserie anschließen, ist perfekt gelöst – vielleicht eine kleine Hommage an den DB4. Doch der übrige Teil der Karosserie ist zeitlos und wirkt bis heute nicht angestaubt.
Der Fahreindruck erinnert eher an einen in den 90er-Jahren gebauten DB4 als an den unmittelbaren Vorgänger. Jedoch ist das Handling weit überlegen und der Vierventil-V8 ein Genuss. Er ist weitaus kultivierter und bissiger als der alte V8 und akustisch näher am V12-Summen als am V8-Grollen. Alle Bedienelemente sind leicht zu betätigen, wie sich überhaupt das ganze Auto ohne Probleme bewegen lässt.
Der Virage kann sein Alter insgesamt sehr gut verbergen – er zeigt Klasse und Eleganz und es macht Freude, ihn zu fahren. Sogar das ZF Getriebe ist weniger schwergängig als frühere Gangschaltungen von Aston Martin. Fazit: Ein wichtiger und nach unserer Überzeugung schon viel zu lange unterbewerteter Aston Martin – seine Renaissance ist längst überfällig.
Text: Stephen Archer / Fotos: Robert Cooper für Classic Driver © 2018