Ich war noch zu jung für den Führerschein, als Alfa Romeo den Alfetta GTV6 vorstellte. Doch wurde schon von den Fotos, mit denen „Motor” in seiner Ausgabe vom 18. Juli 1981 einen Test illustrierte, deutlich, dass es sich um etwas ganz Besonderes handeln musste. Die fließende Form aus der Feder von Giugiaro, ein 2,5-Liter-V6 mit Benzineinspritzung und 158 PS, Scheibenbremsen rundum und ein an der Hinterachse sitzendes Transaxle-Getriebe – ein sehr vielversprechendes Paket. Doch was mich wohl am meisten beeindruckte, waren die auf der Fahrerseite als Luftauslass in der C-Säule eingravierten Buchstaben GTV.
40 Jahre später schreibe ich nun selbst ein paar Worte über einen GTV6 – allerdings über ein vom Serienauto, das damals die Seiten von „Motor“ zierte, stark abweichendes Modell. Denn die Besitzer der kalifornischen Modemarke Aether Apparel haben den GTV als ein „go anywhere” Modell neu interpretiert und das All Terrain-Vehikel auf den Namen „Aether Alpine Alfa” getauft. Aether wurde 2009 von Palmer West und Jonah Smith gegründet, zwei ehemalige Filmproduzenten aus Los Angeles, die ihren Lebensunterhalt in Hollywood verdienten, doch ihre Freizeit lieber mit Outdoor-Abenteuer füllten. Als Folge starteten sie ein Geschäft mit geländetauglicher, aber eleganter Funktionskleidung und Schuhen. Damit sahen die Käuferinnen und Käufer auch im städtischen Dschungel so aus, als würden sie gerade an einem Skilift anstehen – und nicht bloß auf ihren Decaf Soja Flat White warten.
Die Firma mit Hauptsitz in der Melrose Avenue von Los Angeles hat heute Outlets in LA, New York, San Francisco und Aspen. Sie vertreibt alles von lässigen Artikeln fürs Home Office über stilvolle Motorrad-Kombis bis hin zu sehr technischer Winter- und Abenteuer-Kleidung. Da schien es eine gute Idee, ein Geländeauto in Auftrag zu geben, das dem Aether Mantra von „street meets trail” entsprach und zur Jagd nach Abenteuern aller Art animierte – das Ergebnis ist dieser einzigartige und von Safari-Rallyes inspirierte Alfa GTV6.
Nachdem West und Smith ein 85er-Modell als geeignetes Spenderfahrzeug ausfindig gemacht hatten, war ihnen bewusst, dass nur eine Person ihre Vision eines Offroad-Alfa in die Tat umsetzen könnte: Der kanadische Ingenieur und Designer Nikita Bridan und dessen Firma Oil Stain Lab aus Signal Hill nördlich von Long Beach. Bridan gründete Oil Stain Lab vor zwei Jahren zusammen mit seinem Bruder Iliya. Seitdem hat sich das Paar als Erbauer visionärer Automobile einen Namen gemacht – vor allem dank Iliyas Vorliebe für geländegängige Alfas.
Mit dem Briefing, den GTV in einen „Wüsten stürmenden und die Berge erklimmenden Restomod” umzuwandeln, studierte Bridan zur Inspiration Fotos von Rallyeautos der 1980er-Jahre, die unter anderem bei der Safari Rallye oder der Rallye Elfenbeinküste durch die Steppen Afrikas düsten. Der Alfa GTV6 war neben zahlreichen Klassensiegen in der Tourenwagen-EM sowie nationalen TW-Serien auch bei Asphalt-Rallyes ein Siegkandidat. Das französische Rallye-Ass Yves Loubet gewann zwischen 1983 und 1986 viermal in Folge mit einem GTV6 seine Klasse bei der Korsika-Rallye. Und 1987 holte sich Greg Carr ebenfalls auf Alfa die australische Rallye-Meisterschaft.
Mit diesen Bildern im Hinterkopf strippte Bridan den Wagen zunächst bis auf seine „Knochen” ab, ehe er sich – beginnend mit der Aufhängung – an die Neukonstruktion der wichtigsten Komponenten machte. Sowohl Vorder- wie Hinterachse wurden einem Stresstest ausgesetzt, bei dem sie einem Druck von 10 Tonnen standhalten mussten. Dazu verbaute er an der Vorderachse verstärkte Lenker und Stoßdämpferbefestigungen, während er für die Hinterachse zusätzliche Einstellmöglichkeiten schuf – leicht gemacht über einen schon im Grundentwurf vorgesehenen Zugang durch den Kofferraum.
Am Unterboden brachte er dann vorn und hinten einen Unterfahrschutz an, komplett mit integrierten Nebellampen, einem Abschlepphaken und einem Schutz für den Auspuff. Ergänzt an den Flanken um Rammschutzprofile, um mit deren Hilfe nicht nur Schäden an der Karosserie zu vermeiden, sondern auch leichter an das auf dem Dach deponierte Material zu kommen. Desweiteren wurde die komplette Heckscheibe demontiert, um Platz für einen 10 Gallonen fassenden Reservekanister und zwei Reservereifen zu schaffen. Am erwähnten Dachgepäckträger wurde eine Art Lichtbalken integriert, dazu am hinteren Ende ein Spoiler, der den Fahrtwind über die aerodynamisch nachteiligen Ersatzteile im Heck leitete.
Im Innenraum beließ Bridan den Aether Alpine Alfa nahezu serienmäßig, bis auf die Installation eines farblich auf die äußere und auch von Aether entworfene Lackierung beziehungsweise Folierung abgestimmten Überrollkäfig. Das fertige Auto steht 16,5 Zentimeter höher über dem Boden als ein serienmäßiger GTV und schaut mit seinen aufrecht stehenden Reserverädern, All Terrain-Reifen, Suchscheinwerfern und dem robusten Dachgepäckträger aus, als würde ihn sogar ein Einsatz bei der „Dakar“ nicht schocken.
Doch die vielleicht smarteste Komponente dieses spektakulären Sonderaufbaus ist der absolut unangetastete V6-Motor. Das seidig laufende Triebwerk hat genügend PS und auch Drehmoment, um den GTV6 felsige Pfade entlang und hinauf krabbeln zu lassen. Zugleich kann man mit ihm aber auch lange Distanzen erfreulich mühelos zurücklegen. Reparaturen und Wartungsarbeiten sind ebenfalls leicht durchzuführen, sei es in einer warmen und gut ausgestatteten Garage oder notfalls auch im Hinterland. Eines steht jedenfalls fest: Wo auch immer Aether mit seinem einzigartigen Alfa GTV auftauchen wird – er dürfte große Aufmerksamkeit erregen. Es könnte höchstens sein, dass die Schaulustigen keine Menschen, sondern auch Bären und Berglöwen sind.
Fotos von Shayan Bokaie / Jonah Smith © 2021